Klassikerstadt und totalitäre Moderne

Annäherungen an die Geschichte des Weimarer »Gauforums«

»Im Raume lesen wir die Zeit«

Karl Schlögel, Historiker

Ein kurzer Weg durch Weimar nach »Weimar«

Wer sich vom Weimarer Bahnhof aus auf den Weg in den Kern der historischen Altstadt macht, betritt zuerst den »August-Baudert-Platz«. Diese Ortsbezeichnung erinnert namentlich an einen Arbeiterfunktionär, Weimarer Gemeinderat und SPD-Abgeordneten im Thüringer Landtag sowie im Reichstag, der am 8. November 1918 in der damaligen Residenzstadt Weimar die Republik ausgerufen hat. Baudert (1860–1942) war sodann Staatskommissar (1918–1920), anschließend Staatsminister an der Spitze der Landesregierung.

Folgt man Richtung Innenstadt der »Carl-August-Allee« weiter, die an den fürstlichen Landesherrn, Mäzen und Freund Goethes, erinnert – er lebte von 1757 bis 1825 – passiert man den »Buchenwald-Platz« auf dem ein Denkmal von Ernst Thälmann die Faust reckt. Thälmann (*1886), KPD-Funktionär und linksradikaler Gegner der Weimarer Republik, war aus seiner Haft im Zuchthaus Bautzen am 18. August 1944 ins KZ Buchenwald verbracht und dort liquidiert worden.

In der Geschichtspolitik der DDR mutierte er zum »antifaschistischen Helden« und berühmtesten Buchenwald-Häftling – der er nie gewesen ist. Die Inschrift in der Denkmalsmauer – »Aus Eurem Opfertod wächst unsere sozialistische  – Tat« – macht aus den Getöteten und Gestorbenen des Lagers auf dem Ettersberg nachträglich sinnvolle Opfer, deren Sterben nachträglich zur notwendigen Voraussetzung der Gründung des »besseren Deutschland« DDR verklärt wird. – Diese Interpretation deutscher und Weimarer Geschichte aus realsozialistischer Perspektive ist heute in vielerlei Hinsicht erklärungsbedürftig.

Weiter geht’s … an einem alten Schulgebäude vorbei trifft man nach etwa 200 Metern nun auf den »Rathenau-Platz«. Dieser wiederum erinnert an den Industriellen, Schriftsteller, Intellektuellen und Reichsaußenminister Walther Rathenau (*1867), der 1922, also vier Jahre nach Gründung der »Weimarer Republik«, in Berlin ermordet worden ist. Als »Jude« und »Verzichtspolitiker« war er rechtsradikalen Antirepublikanern ein Dorn im Auge und musste daher sterben. Viele Zeitgenossen dieses Mordes verstanden ihn als Menetekel auf das kommende Ende der ersten deutschen Demokratie, zumal Rathenau damals nicht das einzige Opfer rechtsterroristischer Gewalt war und blieb.

Auf dem Platz angekommen bietet sich dem Betrachter die Rückansicht eines beeindruckenden Neo-Renaissance-Gebäudes dar. Umschreitet man diesen Bau, so wird man der Eingangsfront des ehemaligen »Großherzoglichen«, später des Weimarer »Landesmuseums« ansichtig (erbaut 1864–1868), das heute »Museum Neues Weimar« heißt. Über Jahrzehnte zuvor ein Ort für wechselnde Kunst-Ausstellungen, beherbergt es seit 2019 unter seinem neuen Namen eine opulente Dauerausstellung zur Geschichte der Weimarer Moderne um 1900. Dieses sogenannte »Neue Weimar« um Persönlichkeiten wie Henry van de Velde, Harry Graf Kessler und Elisabeth Förster-Nietzsche u. v. a. m. ist ein erster Grund dafür, warum sich das Stadtareal »Quartier der Moderne« nennen darf.

Auf die Geschichte des ehemaligen »Gauforums« verweist schon an dieser Stelle die Tatsache, dass dessen politischer Schöpfer, der Thüringer Nationalsozialist der ersten Stunde und späterer »Reichsstatthalter« Fritz Sauckel (1864–1946, hingerichtet in Nürnberg), die Zentrale seiner Gauleitung im Museumsgebäude eingerichtet hatte. Denn am künftigen »Gauforum« wurde ja noch gebaut.

Verweilt man kurz vor dem Museumsgebäude, so steht man auf dem seit 2018 so genannten »Jorge-Semprún-Platz« (vor 1989: »Karl-Marx-Platz, dann: »Weimar-Platz«), dessen Name an den spanischen Schriftsteller (1923–2011) erinnert, der als kommunistischer Widerstandskämpfer 1943 im besetzten Frankreich verhaftet worden war. Im Januar 1944 wurde er nach Buchenwald deportiert, überlebte das Lager – und kämpfte anschließend noch jahrelang aus dem Untergrund heraus gegen das diktatorische Franco-Regime in seinem Heimatland (1953–1962). Aus seinen bitteren Erfahrungen unter der Gewalt des Nationalsozialismus machte Semprún Weltliteratur. Seine Romane »Die große Reise« (1963) und »Was für ein schöner Sonntag« (1980) schildern die Verfolgung, Deportation und Inhaftierung des Autors und sind ein einziger Appell zu Frieden und Mitmenschlichkeit unter den Menschen und Völkern Europas.

Auf dem Rasenplatz inmitten des Gebäudeensembles vor dem Museum stehen überlebensgroße Porträts von Überlebenden des KZ Buchenwald. Diese »Zeugen« sind eine dauernde Mahnung wider das Vergessen der dunklen Seiten deutscher und weimarischer Geschichte – und der Vorschein eines künftigen Ausstellungsvorhabens zur Geschichte der Zwangsarbeit in Europa (ab Mai 2023), die – konzipiert von der »Gedenkstätte Buchenwald und Mittelbau Dora« – in einem Gebäude des heutigen »Thüringer Landesverwaltungsamtes« beheimatet sein wird.

Dieses Landesverwaltungsamt, eine Behörde des Freistaates Thüringen zur Verwaltung und Koordinierung von Kommunal- und Gemeindeverwaltungen, residiert in den langgestreckten, schier unübersehbaren Gebäudeflügeln des ehemaligen »Gauforums«. In deren Zentrum steht das sogenannte »Weimar Atrium«, ein Einkaufszentrum und Ladenkomplex.

Dessen Spitznamen im lokalen Volksmund – »Reichseinkaufshalle« – auf die ursprüngliche Funktion des 1945 unvollendeten Gebäude sowie die des gesamten Gebäudeensembles verweist. Einst als »Halle der Volksgemeinschaft« konzipiert, hätte sie den Inszenierungen von NS-Festen und -Feiern, also der rituellen Imagination der »Volksgemeinschaft« gedient. Kriegsende und Besatzungszeit ließen die massive Spannbeton-Konstruktion als Relikt aus alter Zeit stehen, das manche als »Hitler-Rippe« verspotteten.

In die zu Kriegsende fast fertiggestellten Verwaltungsbauten zog 1946 die »Sowjetische Militäradministration Thüringen« an den Platz, unter dem heute eine Tiefgarage die BürgerInnen nicht zum Kult in der Halle, sondern zum Konsum im »Atrium« (ver)führt.

Wendet man sich nun vom »Semprún-Platz« und dessen Gebäuden ab und schaut über die Straße in Richtung des Grünzugs im Weimarhallen-Park, so bricht sich der Blick am hellen, offensiv modernistischen Kubus des neuen Bauhaus-Museums (eröffnet 2019). Dieses komplettiert das »Quartier der Moderne« im selbstbewussten Gestus einer Architektur, die sich in der Nachfolge der berühmen Kunstschule wähnt.

Das »Staatliche Bauhaus« in Weimar war 1919 ein Kind der neuen republikanischen Verhältnisse, wurde schnell berühmt – war immer umstritten und zugleich umworben – und verließ 1924 die Klassikerstadt an der Ilm, um in der Industriestadt Dessau eine neue Heimat zu finden. Das damals in Thüringen veränderte innenpolitische Klima führte unter dem Wahlkampfmotto »Das ganze Land kam auf den Hund, nun rettet nur der Ordnungsbund« den Thüringer Landbund (ThLB), die Deutsche Volkspartei (DVP), die Deutschnationale Volkspartei (DNVP) und die Deutsche Demokratische Partei (DDP sowie weitere Verbände und Interessenvertretungen des bürgerlichen Lagers zu einem »Ordnungsbund« zusammen. Dessen Duldung rechter und rechtsradikaler Organisationen schwächte die demokratische Substanz der Thüringer Politik und Gesellschaft nachhaltig und ließ das Bauhaus das Weite suchen.

Das heutige »Bauhaus-Museum« erzählt die Geschichte des Weimarer Bauhauses von 1919 bis 1925, es sichert und zeigt Spuren der Rezeption des historischen Bauhauses bis in die Gegenwart hinein. In inszenierten Zusammenschau zahlreicher beeindruckender Exponate und im Dialog mit der musealen Innenarchitektur lässt sich so die komplexe Entwicklung der »Moderne«, von der Industrialisierung in der Gründerzeit bis weit in das 20. Jahrhundert hinein – mit Seitenblicken nach Dessau und Berlin sowie stets im Kontext europäischer und internationaler Entwicklungen – anschaulich thematisieren.

Wer nun aber glaubt, das »Quartier der Moderne« und die Geschichte der »klassischen Moderne« insgesamt sei nun abgeschritten und vermessen, der irrt.
Denn hat man den Eingang zum Bauhaus-Museum im Rücken, schaut man direkt auf das sog. »Turmhaus« des ehemaligen NS-Gauforums und erblickt über einer Tür den Hinweis auf die dort etablierte Ausstellung zur Geschichte eines schwierigen Erbes der Thüringer, Weimarer und deutschen Geschichte im »Zeitalter der Extreme«, des 20. Jahrhunderts.

Das Weimarer Gauforum – Erbe, Erinnerungsort und Ärgernis

Wie es begann …

Im mehrheitlich antirepublikanischen bürgerlichen Milieu Weimars fanden schon kurz nach der Republikgründung 1918/​19 radikale Nationalisten wie später auch die Nationalsozialisten Sympathisanten, Anhänger und offene Befürworter. Die von Anfang an nach der politischen Macht strebenden Gefolgsleute Hitlers eroberten mit Hilfe dieses, dem eigenen Selbstverständnis nach »unpolitischen« Bürgertums immer mehr kultur-, kommunal- und landespolitisches Terrain in Weimar und Thüringen. Die während der späten 1920er Jahre zunehmend aggressive Konfrontation demokratischer und antirepublikanischer Kräfte auf Straßen und in den Versammlungslokalen deutscher Städte taten ein Übriges, um das Ansehen der Demokratie in den Augen der Wählermehrheit zu erschüttern. Immer mehr Menschen – auch in Weimar und Thüringen – sehnten sich nach einem starken Staat unter autoritärer Führung, von dem die Beendigung sozialer und politischer Missstände erwartet wurde.

Nachdem bereits im Jahre 1930 mit Wilhelm Frick und Willy Marschler zwei Nationalsozialisten in Thüringen Regierungsverantwortung trugen, brachte die Landtagswahl vom Juli 1932 Gauleiter Fritz Sauckel an die Spitze einer neuen, nun mehrheitlich nationalsozialistischen Regierung. Weimar als Gauhauptstadt avancierte zum beliebten Aufmarschplatz lokaler und regionaler NS-Formationen und sollte daher auch stadtplanerisch zum sichtbaren Zentrum von Sauckels Macht umgestaltet werden, wobei das kulturelle Erbe der Klassikerstadt – nicht ohne Verschulden seiner bürgerlichen Verehrer – ins Kalkül der Nationalsozialisten integriert wurde. Sauckel selbst, gleichermaßen durchsetzungswillig wie organisatorisch hoch begabt, veränderte in wenigen Monaten das Gesicht Thüringens radikal und gestaltete das Land zum »Muster-« und »Trutzgau« um.

Zur Leistungsbilanz des NS-Gaus gehörte die systemkonforme, von den Kultureliten, den Bürgern und zahlreichen Touristen geschätzte Instrumentalisierung und »Pflege« des kulturellen Erbes seit der Klassik. Daneben die Verfolgung und Vernichtung von »Gemeinschaftsfremden«, seien dies Kommunisten, »Volksschädlinge«, »Juden« sowie andere, aus rassistischen Gründen ausgegrenzte Minderheiten. Schließlich war – so makaber das auch in unseren Ohren klingt – das Konzentrationslager auf dem Ettersberg sowie ab 1939 der Aufbau einer leistungsfähigen Rüstungsindustrie in Thüringen, deren Effizienz mit tausenden von »Fremdarbeitern« (also Zwangsarbeitern) gesichert und bis Kriegsende aufrecht erhalten wurde, wesentlicher Teil der erwähnten Leistungsbilanz des mitteldeutschen »Mustergaus«.

Forum der Macht

Von 1936 bis 1945 entstand inmitten Weimars zwischen der Altstadt und dem Bahnhofsviertel das einzige bis Kriegsende beinahe fertig gebaute »Gauforum« in Deutschland. Das Großprojekt veränderte das Antlitz eines innenstadtnahen Vierteis vollkommen: 139 Häuser mit 462 Wohnungen für ca. 1700 Personen sowie einzelne Geschäftshäuer wurden auf dem künftigen Gelände des Gauforums abgerissen; ebenso änderte sich die Straßen- und Wegeführung.

Mit einem Ensemble aus drei großen Verwaltungs- und Repräsentationsbauten für die Gauleitung Thüringen, einzelne Gliederungen der NSDAP, die »Deutsche Arbeitsfront«, einem von diesen Gebäuden umgebenen Aufmarschplatz und einer Versammlungshalle (»Halle der Volksgemeinschaft«) schufen sich die regionalen NS-Eliten ein neues Machtzentrum in Thüringen, das kurz nach der »Machtergreifung« 1933 den offiziellen Ehrentitel »Trutzgau Thüringen« tragen durfte. Im Zusammenspiel mit Berliner Behörden, vor allem aber mit dem »Führer und Reichskanzler« Hitler selbst, baute der aus Süddeutschland kommende Architekt Hermann Giesler in Weimar einen Prototyp für alle deutschen Gauforen, die in anderen Städten jedoch über die Planungsphase und erste kleinere Arbeiten nie hinausgekommen sind.

Exkurs: Geschichtsbilder machen Geschichte

Vergegenwärtigt man sich den nach der »Befreiung« 1945 einsetzenden Prozess der Weimarer Erinnerungen an das sogenannte »Dritte Reich« und die Herrschaft des Nationalsozialismus in Stadt und Land Thüringen, so wird man vor allem auf zwei Dinge zu achten haben. – Die gesamte Geschichte der erinnerungskulturellen und geschichtspolitischen Arbeit am kulturellen Erbe Weimars und dessen politischer Vergangenheit ist hier allein schon aus quantitativen Gründen nicht zu erzählen.

Festzuhalten aber bleibt: Offiziell galt das, zuerst von den Amerikanern, sodann aber von der Roten Armee befreite und besetzte Thüringen und dessen alte Landeshauptstadt Weimar nach dem Mai 1945 als »vom Faschismus befreit«. In der Tat hatten die neuen Herren zahlreiche Funktionsträger der zweiten und dritten Reihe sowie bekannte Sympathisanten des NS-Regimes ausgemacht, arretiert und die meisten davon im sogenannten »Speziallager Nr. 2« auf dem Ettersberg inhaftiert. Dieses »Speziallager Nr. 2 Buchenwald« war eines von insgesamt zehn Lagern und drei Haftanstalten in der Sowjetischen Besatzungszone (SBZ), die von der Besatzungsmacht zur Internierung von Deutschen benutzt wurden. Seit August 1945 nutzte führte der sowjetische Sicherheitsdienst und die militärischen Dienststellen die vorhandenen Baulichkeiten des Konzentrationslagers Buchenwald weiter. Vorrangig wurden dort lokale Funktionsträger der NSDAP, aber auch Jugendliche, politisch Denunzierte oder den Behörden verdächtige Personen interniert. Jeglicher Kontakt nach außen wurde unterbunden; ein auch nur im Ansatz rechtsförmiges Verfahren fand nicht statt. Von den 28.000 des Lagers Insassen starben vor allem im Winter 1946/​47 über 7000 an den Folgen von Hungerkrankheiten. Im Februar 1950, kurz nach der Gründung der DDR, wurde das Lager von den Sowjets aufgelöst – und die Ära der Speziallager war vorüber.

Für die Arbeit am Erbe nach 1949 blieb folgendes geschichtspolitisches und ideologisches Setting verpflichtend: Das offizielle und offiziöse Selbstverständnis der SBZ, vor allem aber das der jungen DDR, gründete im »Antifaschismus« und einem selektiven Erinnern an Opposition und Widerstand von Personen, Gruppen und Parteien der politischen Linken, also der KPD und später der SED. (weitgehend ohne die Berücksichtigung der SPD oder einzelner »Abweichler« im eigenen Lager).

»Die Faschisten« und deren Erbe(n) verortete man, ebenso wie die viel geschmähten »Kapitalisten«, in den Westzonen und der jungen Bundesrepublik – eine Lesart deutsch-deutscher Geschichte, die im Kalten Krieg ihre problematische Wirkung auf den Zeitgeist und der Verhältnis der beiden deutschen Staaten zueinander voll entfalten konnte. Folgerichtig hieß dann die im August 1961 errichtete Berliner Mauer offiziell »antifaschistischer Schutzwall«.

In Weimar selbst überdeckte die Erinnerung an das Konzentrationslager Buchenwald oben auf dem Berg, den »Widerstand« der Häftlinge« und deren »Selbstbefreiung« im Mai 1945 jegliche genaueren Nachfragen nach der Rolle der NS-Ideologie und der NS-Herrschaftspraxis unten in der Stadt. Wichtige Repräsentanten des alten Regimes waren – so nicht in den letzten Kriegswochen umgekommen – nach Westen entflohen oder untergetaucht. Andere machten einfach weiter.

Baustopp, Ende und Anfang…

Am 12. April 1945 endete für Weimar der Zweite Weltkrieg. Im Bewusstsein der Bewohner standen dafür sehr unterschiedliche Erfahrungen: Zahlreiche Gebäude der historischen Altstadt waren zerstört, das Gauforum lag halb fertig inmitten der Stadt, die Bevölkerung litt unter chronischen Versorgungsengpässen und das Konzentrationslager Buchenwald war am 11. April befreit worden. Die Freude über das für die Stadt verhältnismäßig glimpfliche Kriegsende wurde durch das Gefühl getrübt, für die unmenschlichen Gräuel des Lagers auf dem Ettersberg zur Mitverantwortung gezogen zu werden.

Bereits unmittelbar nach der Befreiung im April hatten nicht nur die Debatten über die Wiedereröffnung der Weimarer Forschungs- und Memorialstätten und einen kulturellen Neubeginn im Geiste des Antifaschismus und Exils begonnen, sondern auch Diskussionen über ein würdiges Gedenken für die Opfer der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft. Beides geschah vor dem Hintergrund eines offiziellen Unschuldbekenntnisses, das schon am 1. Mai 1945 von Oberbürgermeister Fritz Behr, dem höchsten protestantischen Geistlichen, Superintendenten Richard Kade, dessen katholischen Kollegen, Dechant Wilhelm Breitung, sowie von Hans Wahl, dem Leiter sämtlicher Klassischer Stätten, der amerikanischen Besatzungsbehörde überbracht worden war. Stellvertretend für alle Weimarer bestritten diese Honoratioren erbost eine Mitschuld der Stadt für das Konzentrationslager auf dem Ettersberg, damit aber letztlich für den Nationalsozialismus überhaupt.

Nach dem Besatzungswechsel ab März 1946 diente das Arkadenhaus der »Sowjetischen Militäradministration Thüringen« (SMATh) als Kommandantur; der Platz selbst kam als möglicher Ort antifaschistischen Gedenkens immer wieder ins Gespräch.

Im Jahre 1949 wurde die Deutsche Demokratische Republik gegründet. Damit änderte sich der Besatzungsstatus der ehemaligen »SBZ«, die »Sowjetische Militäradministration Thüringen« wurde aufgelöst und räumte die Gebäude am »Karl-Marx-Platz«. In das »Arkadenhaus« zog nun eine landwirtschaftliche Fachschule ein. Das »Turmhaus« nutzten die »Arbeiter- und Bauern-Fakultät« der »Hochschule für Baukunst und Bildende Kunst« (heute: Bauhaus-Universität Weimar) sowie eine kommunalpolitische Verwaltungsschule gemeinsam. Das »Stadthaus« fungierte als Internatsgebäude für die Schüler der verschiedenen pädagogischen Einrichtungen.

Im Jahre 1951 verlegte der Thüringer Landtag seinen Sitz von Weimar nach Erfurt. Weimar verlor seinen Status als Landeshauptstadt; zum Zentralort des neu gebildeten SED-Bezirkes wurde Erfurt, die seit langem bedeutendste Stadt der Region.

Oben auf dem Ettersberg begann in jenen Jahren der Ausbau des ehemaligen Konzentrationslagers Buchenwald zur »Nationalen Mahn- und Gedenkstätte« und damit zum wichtigsten Ort der DDR für deren offizielles antifaschistisches Selbstverständnis. Die Nutzung großer Teile des alten Lagers als »Speziallager 2« zwischen 1945 und 1950 wurde aus dem öffentlichen Gedächtnis getilgt und in der Gedenkstätten-Konzeption unterschlagen.

Das klassische Erbe sollte hingegen unten in der Stadt weiter betreut werden. Im Juli 1954 legte der Rat der Stadt eine »Denkschrift über die Weiterentwicklung Weimars zu einer Kulturstadt von zentraler Bedeutung« auf. Ein Jahr zuvor waren die »Nationalen Forschungs- und Gedenkstätten der klassischen deutschen Literatur« (NFG) ins Leben gerufen worden – im Volksmund »VEB [Volkseigener Betrieb] Goethe und Schiller« genannt.

Die wachsende Bedeutung Weimars als Ort der sozialistischen Erbepflege ließ neue Überlegungen entstehen, wie mit dem Gebäudeensemble am »Karl-Marx-Platz« weiter zu verfahren sei. So entwickelte man etwa Vorstellungen zum Weiterbau der Halle als Hauptgebäude eines zukünftigen »politischen Zentrums«. In diesem Zusammenhang plante man außerdem am »Arkadenhaus« einen vierten hinteren Gebäudeflügel und den Totalabriss des alten Landesmuseums, das seit Kriegsende ungenutzt geblieben war. Sämtliche dieser nicht umgesetzten Konzeptionen standen im Kontext des ersten »Fünfjahres-Plans« der DDR.

Im Dezember 1955 wurde im Auftrag des Rates der Stadt am »Turmhaus« ein Stalin-Denkmal aufgestellt. Das vor der verschalten Westfront der Halle stehende erste Denkmal sollte ersetzt werden; aber Witterungsschäden führten bereits Ende 1956 zum Abbau des Denkmals.

Nach einem Besuch Walter Ulbrichts, Generalsekretär des Zentralkomitees der SED (1950–1971) und Staatsratsvorsitzender der DDR (1960–1973), im April 1964 wurden Sanierungsmaßnahmen im Altstadtbereich unter Einbeziehung des »Gauforum«-Komplexes beschlossen.

Das seit Kriegsende verfallende Landesmuseum sollte nunmehr nicht beseitigt, sondern instand gesetzt werden. Erneut wurden verschiedene Planungen zur Nutzung der »Kongress-Halle« als Sport-,Freizeit- und Tagungszentrum aufgelegt. Ziel dabei war »die Überwindung des baulichen Erbes der faschistischen Vergangenheit« und die »Umwandlung der unmenschlich monumentalen Konzeption des Gebäudes in ein Bauwerk, welches den Bedürfnissen unseres sozialistischen Lebens entspricht.« Aus Kostengründen lehnte der Staatsratsvorsitzende Walter Ulbricht den Ausbau jedoch ab und sprach sich für eine Nutzung als Lagerhalle aus.

Wendezeiten

So spektakulär und umwälzend die so genannte »Wende« von 1989 in vielen gesellschaftlichen Bereichen auch gewirkt hat, in den Gebäuden des »Gauforums« vollzog sich der politisch-gesellschaftliche Wandel verhältnismäßig stillschweigend. In die ehemaligen Verwaltungsgebäude unmittelbar am Platz zog ab 1990 das Thüringer Landesverwaltungsamt ein. Einzelne Gebäudeteile standen der Nutzung durch andere Institutionen, wie der Hochschule für Architektur und Bauwesen (heute: Bauhaus-Universität), der Weimarer Staatskapelle und dem Deutschen Nationaltheater (Probenräume, Studiobühne) allerdings weiterhin offen.

Wesentliche Anregungen erfuhr die Weimarer Debatte über Formen des Erinnerns durch Anregungen aus der Gedenkstätte Buchenwald, deren eigene Konzeption und Erinnerungsformen sich zwischen 1991 und 1995 ebenfalls grundlegend verändert haben.

Der vorher von zahlreichen Pflanzen, Sträuchern und Bäumen bewachsene Platz zwischen den beherrschenden Gebäudeflügeln des Landesverwaltungsamtes wurde zum Parkplatz umgestaltet. Dieser verlor seinen alten Namen »Karl-Marx-Platz« ebenso schnell, wie der alte »Friedrich-Engels-Ring« in Weimar zur »Trierer Straße« wurde. Das bereits 1969 in der Lokalpresse so genannte »Sorgenkind Weimars«, also die »Mehrzweckhalle«, blieb auch in den folgenden Jahren das städtebauliche Problemkind.

Im Kulturstadtjahr 1999 wurden einige Geschosse der Halle ebenso wie einzelne Räume des »Turmhauses« zu Ausstellungszwecken genutzt, wobei die Geschichte des Gesamtensembles bewusst ein Teil der jeweiligen Ausstellungskonzeption war. Derartige Diskussionen über die Halle und deren Zukunft stimulierten von Anfang an auch weiterführende städtebauliche Überlegungen, wie denn in Zukunft mit dem Gesamtensemble »Gauforum« mitten in Weimar umzugehen sei.

Inspiriert wurden die erinnerungskulturellen und geschichtspolitischen Kontroversen und Konzepte in Weimars Stadtkultur und -politik auch durch die in den nach 1989 umbenannten und umorganisierten Institutionen der lokalen Erbepflege und einzelne der dort beheimateten Forschungsprojekte. Aus den NFG war nun die Stiftung Weimarer Klassik (SWK) geworden, die sich 2003 mit den Kunstsammlungen zu Weimar zu einer neuen »Stiftung Weimarer Klassik und Kunstsammlungen« verband, und sich ab 2006 »Klassik Stiftung Weimar« (KSW) nannte.

Die Forschungs- und Sammlungspolitik dieser Kulturinstitutionen ließ sich ab 1995 deutlicher als je zuvor auf deren Vorgeschichte im Deutschen Kaiserreich, der Weimarer Republik und im sog. »Drittem Reich« ein, um in einem nächsten Schritt die Historie der NFG in Ansätzen zu durchleuchten. Die »Bauhaus-Universität Weimar« (bis 1996 »Hochschule für Architektur und Bauwesen; HAB) sowie die Hochschule für Musik »Franz Liszt« erforschten ihrerseits die Institutionsgeschichte ihrer Häuser, mit einem geschärften Blick auf die mittleren Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts.

Bilder einer Ausstellung

Einen wichtigen Schritt nach vorn im öffentlichen Umgang mit dem architektonischen Erbe »Gauforum« bedeutete eine erste Ausstellung zur Geschichte des Gebäudekomplexes, die im Juni 1999, als Weimar Kulturstadt Europas war, in einer vorläufigen Version eröffnet werden konnte. Ziel dieser Exposition, entstanden in der Kooperation zwischen der Bauhaus-Universität und der KSW, war und ist es, die Bau- und Nutzungsgeschichte des Weimarer Gauforums zwischen 1937 und der Gegenwart zu dokumentieren sowie allgemeine Erkenntnisse der Kunst- und Architekturgeschichte im speziellen Kontext der Weimarer Stadtgeschichte des 20. Jahrhunderts zu präsentieren. Am unübersehbaren architektonischen Relikt vergangener Epochen sollten bekannte, längst vergessene oder gar verdrängte Aspekte der Lokal-, Regional- und Nationalgeschichte verdeutlicht werden.

Die Ausstellung verstand sich seinerzeit als Zwischenergebnis eines weiterhin offenen Diskussions- und Gestaltungsprozesses und wollte zu weiterführenden Ideen des öffentlichen Umgangs mit dem »Erbe« des »Dritten Reiches« in Weimar anregen. Im Jahre 2009 konnte sie um weitere Informations-Tafeln erweitert werden. Zudem wurde es nun ermöglicht, in das Innere des halbvollendeten Turmes zu schauen, womit die Ausstellung ihr größtes und beeindruckendstes Exponat gewonnen hat.

In naher Zukunft soll die historische Ausstellung erneut ergänzt werden um ein taktiles Modell des städtebaulichen Areals um das ehemalige »Gauforum«. Diese Installation soll die Ausstellungsbesucher nicht nur optisch-anschaulich mit der baulichen Struktur, den Proportionen und den Größenverhältnissen des »Quartiers der Moderne« vertraut machen, sondern ermöglicht das Abrufen zahlreicher weitere Informationen zu den Gebäuden, Straßen und Plätzen im Umfeld der Bauten des heutigen Landesverwaltungsamtes.

Wenn dann voraussichtlich im Frühjahr 2023 die Ausstellung zur Geschichte der Zwangsarbeit in Deutschland und Europa am Semprún-Platz eröffnet wird, ist die archäologische Arbeit an den Ambivalenzen der Moderne und deren totalitären Ausfaltungen vorerst weitgehend beendet – ohne dass die öffentlichen, zivilgesellschaftlichen Debatten um die Bewertungen des Nationalsozialismus und Realsozialismus als integrale Epochen der deutschen und europäischen Geschichte im 20. Jahrhundert auf diese Weise stillgestellt wären.

Nachbemerkung

Es war der jüdische Philosoph und Intellektuelle Theodor Lessing, der nach dem Desaster des Ersten Weltkriegs und der deutschen Niederlage sein berühmtes Buch »Geschichte als Sinngebung des Sinnlosen« (1919) veröffentlicht hat. Ohne die damalige kulturkritische, ja bisweilen kulturpessimistische Perspektive Lessings zu teilen, kann man aus diesem Buch lernen, dass das, was wir Geschichte nennen, bearbeitete und gedeutete Vergangenheit ist, die oftmals mehr der Orientierung in einer spezifischen Gegenwart dient als der nüchternen, rein sachlichen Wahrnehmung und Bewahrung vergangenen Geschehens.

Die Rekonstruktion der Bau- und Nutzungsgeschichte des ehemaligen Weimarer »Gauforums« arbeitet sich an den realen Hinterlassenschaften der Gebäude und ihrer Formensprache ebenso ab wie an der Dekonstruktion der dem Bauprojekt inhärenten ideologischen Interessen der nationalsozialistischen Bauherren. Zugleich gerät die Nachgeschichte wie die Nachnutzung der Gebäude in den Blick – aller dies allerdings aus der Perspektive einer demokratischen Gesellschaft mit divergierenden politischen Haltungen und Weltanschauungen. Die Wertung dessen, was man in der historischen Ausstellung erfährt, ist dem Betrachter überlassen ebenso wie dessen emotionale Reaktion auf die schiere Anmutung der Gebäude aus der moralisch und politisch bisher schwierigsten Epoche deutscher und europäischer Geschichte.

Über mögliche neue Befangenheiten und blinde Flecken in unseren zeitgenössischen Geschichts- und Gesellschaftsbildern wäre künftig respektvoll zu streiten – als Grundlage solcher Debatten sind im Weimarer »Quartier der Moderne« die wichtigsten Spuren jedenfalls gesichert. Mit einer Formulierung aus Ernst Blochs »Geist der Utopie« (1919) könnten wir sagen: »Ich bin. Wir sind. Das ist genug. Nun haben wir zu beginnen.«

Dr. Justus H. Ulbricht